Das Erreichen von CO2-Neutralität und Null-Emissionen ist eine Herausforderung, die in den nächsten 30 Jahren beträchtliche öffentliche und private Investitionen erfordern wird. Beitrag sollen dabei alle Wirtschaftszweige in allen EU-Mitgliedstaaten leisten. Dies gilt insbesondere für Bulgarien, da die Untersuchung der EU-Kommission ergibt, dass die bulgarische Wirtschaft eine hohe Energie- und CO2-Intensität aufweist.
Die bulgarische Ausgangsposition
2017 brauchte Bulgarien ca. 4 Mal mehr Energie und die CO2-Emissionen pro BIP-Einheit waren um das Vierfache höher als der EU-Durchschnittswert, wobei ca. 50 % der Elektroenergie in Braunkohlekraftwerken erzeugt wurden. Die erzeugte primäre Stromenergie für ein Jahr beträgt laut diversen statistischen Quellen ca. 135–140 Mio. MWh oder 110–115 Mio. MWh Strom aus CO2-emittierenden Quellen. Bis 2050 soll diese Stromenergie durch „grüne“ Energie ersetzt werden, vorausgesetzt, dass keine wesentlichen Änderungen des Stromverbrauchs auf Jahresbasis eintreten.
Eine Option, in der die Kohlekapazitäten beibehalten werden, ist ausgeschlossen. Obwohl es in der endgültigen Fassung des Aufbau- und Resilienzplans steht, dass Bulgarien 2038–2040 auf die Kohle verzichtet, wird der Kohlesektor in der Tat gezwungen sein, den Wandel viel früher – schon um 2025 – zu starten.
Zu berücksichtigen ist, dass im bulgarischen Energiesektor und den damit verbundenen Produktionsbranchen über 100 000 Arbeitnehmer (davon viele hochqualifizierte Fachleute) beschäftigt sind. Nur im Maritza-Becken liegt ihre Zahl bei ca. 60 000. Das Schicksal dieser Arbeitnehmer hängt direkt vom erfolgreichen Übergang zur Grünenergie ab, da sie die Treibkraft der bulgarischen Energiewirtschaft sind.
Die Debatte in der EU
Im Zusammenhang mit den ehrgeizigen Zielen des Green Deals wird in den EU-Mitgliedstaaten seit Jahren über die beste Variante zum Kombinieren der zugänglichen Energiequellen zwecks Sicherstellung der langfristigen Stabilität der Energielieferungen diskutiert. Wichtig ist dabei zu vermerken, dass eine universelle Lösung auf EU-Ebene eher unmöglich erscheint. Jeder EU-Mitgliedstaat führt umfangreiche Untersuchungen durch, um zu einer optimalen wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Lösung zu kommen.
Mögliche Optionen des Übergangs in Bulgarien
Angesichts der Erfahrung der anderen EU-Mitgliedstaaten wurde versucht, die wichtigsten möglichen Optionen für die langfristige strategische Entwicklung der bulgarischen Energiewirtschaft zu umreißen. Auf alle Fälle soll die bestehende Förder- und Produktionsinfrastruktur im Maritza-Becken und in den anderen betroffenen bulgarischen Regionen erhalten bleiben (auch in einem „konservierten“ Zustand) mit dem Ziel einer eventuellen künftigen Entwicklung bei Vorhandensein der dazu erforderlichen Technologien.
1. Option – Photovoltaik als Basiskapazität
Auf Jahresbasis erzeugen die PV-Anlagen 6–7 Mal weniger Energie im Vergleich zu einer Basis-Anlage mit derselben Leistung. Um CO2-emissionsstarke Energie durch Photovoltaik-Energie hundertprozentig ersetzen zu können, sollen ca. 85–90 GW PV-Anlagen (15 GW Basisleistung) installiert werden.
Aus finanzieller Sicht wird die Installation von 90 GW PV-Anlagen ca. 25–30 Mrd. EUR kosten, was im Vergleich zu den anderen Optionen kostengünstiger erscheint, da die Betriebskosten für diese Anlagen sehr niedrig sind. Auf Durchschnittsjahresbasis sind aber die PV-Anlagen nur zeitlich begrenzt im Betrieb, d. h. für die Deckung des Bedarfs in der übrigen Zeit würden zusätzlich Speichersysteme mit einer Leistung von ca. 250–300 000 MWh notwendig sein, was die Umsetzung dieser Option derzeit unrealistisch erscheinen lässt.
Immerhin ist diese Option nicht ganz auszuschließen, da mit der Entwicklung der Technik und der mittelfristigen massenhaften Einführung der Photovoltaik in den Industriebereich (in 10–15 Jahren) die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit der Photovoltaik als Grundkapazität sich als zukunftsträchtig erweisen könnte.
2. Option – Investitionen in neue AKW
Leider wurde die Debatte um die Zukunft der Kernenergie in Bulgarien in den vergangenen Jahrzehnten stark politisiert. Als Folge daraus wurden die Blöcke 1–4 des AKW Kozloduy stillgelegt und dadurch für immer verloren. Enorme öffentliche Ressourcen wurden in das AKW Belene investiert, ohne dabei ein klares Wirtschaftsmodell zu haben. Hinzu kommt, dass Anfang 2021 Pläne für Blöcke 7 und 8 des AKW Kozloduy mit der vorhandenen Ausrüstung für AKW Belene veröffentlicht wurden, auch ohne eine stichhaltige wirtschaftliche Begründung.
Aktuell kostet der Aufbau einer AKW-Einheit von 1 GW in der EU 9–10 Mrd. EUR und nimmt ca. 10 Jahre in Anspruch. Als Vorteile der Kernenergie können der ununterbrochene Betrieb bei einer Lebensdauer von 50–60 Jahren, die langfristige Stabilität, das große Potential für Wasserstofferzeugung bei Basisbetrieb und zwar ungeachtet der Schwankungen im Energiesystem genannt werden.
Die Nachteile der Kernenergie sind aber recht gravierend:
· Es handelt sich um eine Basiskapazität ohne Manövrierpotential, was grundsätzlich keine nachhaltige Kombination mit Photovoltaik und Windanlagen erlaubt;
· Die Betriebs- und Modernisierungskosten sind sehr hoch (insbesondere nach Fukushima) und könnten die Anfangsinvestition um das 2–3-fache übersteigen (d. h. 20–30 Mrd. EUR für 1 GW). Dazu kommt das wesentliche Risiko der Zuverlässigkeit der Lieferungen von frischem Kernbrennstoff und der Entsorgung der hoch radioaktiven Abfälle;
· Ein solches Vorhaben kann nur vom Staat getragen werden (direkte Staatsbeteiligung in Form von staatlichen Garantien), was Finanzressourcen in Milliardenhöhe erfordern würde. Zudem haftet der Staat bei einem Vorfall auch wenn der Betreiber eine Privatperson ist.
Auf diesem Hintergrund erscheint der Bau von neuen Kernkraftkapazitäten in Bulgarien finanziell eher nicht zweckmäßig, da der Endpreis für 1 GW neue Kapazität (Bau und Betriebskosten) 30–40 Mrd. EUR erreichen würde.
Zudem kann Bulgarien die Risiken und Abhängigkeiten für die nächsten Jahrzehnte, die sich aus den notwendigen regelmäßigen Lieferungen von frischem Brennstoff und der Entsorgung der hoch radioaktiven Abfälle (auch mit zusätzlichen Kosten verbunden) nicht vermeiden. Nicht zu unterschätzen sind auch bestimmte nicht gute Wirtschaftspraktiken in der Kernenergiewirtschaft und die negative Stimmung in der Öffentlichkeit nach Tschernobyl und Fukushima.
In jedem Einzelfall soll die bulgarische Regierung alles nach ihren Kräften tun, um den Betrieb der Blöcke 5 und 6 des AKW Kozloduy möglichst lang aufrechtzuerhalten (auch durch die Verlängerung der Lebensdauer der beiden Blöcke), da der Preis der dort erzeugten Kernenergie sehr wettbewerbsfähig ist.
3. Option – Kombination aus Photovoltaik und Dampf-Gas-Kraftwerken
Eine dritte Option ist die Installierung von ca. 15 GW Photovoltaik- und Windanlagen im Wert von 5–6 Mrd. EUR und 15 GW flexibler Dampf-Gas-Kraftwerke im Wert von 25–30 Mrd. EUR, auch durch das Auswechseln der Brennanlagen der Kohlekraftwerke. Aus diesem Gesichtspunkt soll die Betriebsverlängerung der sog. amerikanischen Kraftwerke wegen ihrer hohen technischen Flexibilität und ökofreundlichen Technologien und Ergebnisse auf weltweitem Niveau vom Staat gefördert werden.
Die Dampf-Gas-Kraftwerke haben einen höheren Nutzkoeffizienten (ca. 60 %). Ihre Vorteile bestehen in der hohen relativen Leistung, schnellen Betriebsbereitschaft, relativ kleinen Ausmaßen, den verhältnismäßig niedrigen Aufbau- und Betriebskosten. Ein Dampf-Gas-Kraftwerk wird in ca. 4–5 Jahren aufgebaut. Ein weiterer rein technischer Vorteil besteht in der Möglichkeit der Hinzufügung von bis zu 20 % Wasserstoff zum Erdgas.
Der wichtigste Nachteil besteht in der Notwendigkeit umfangreicher Erdgaslieferungen und in der Tatsache, dass der Preis des erzeugten Stroms zu 80 % vom Erdgaspreis abhängig ist. Gegenwärtig wird das Erdgas als ein „Übergangsbrennstoff“ mit einem Zeithorizont bis 2030–2035 betrachtet. Danach soll Erdgas durch den sog. „grünen Wasserstoff“ ersetzt werden.
Im Hinblick auf den aktuellen Stand der Technik erscheint derzeit die Kombination aus Photovoltaik und Dampf-Gas-Kraftwerken am realistischsten.
Zur Gewährleistung der langfristigen Stabilität soll der bulgarische Staat nachhaltig in Industrietechnologien zur Erzeugung von grünem Wasserstoff, auch durch Photovoltaik, investieren. Wenn man davon ausgeht, dass die Dampf-Gas-Kraftwerke modernisiert werden und schrittweise zu einem ausschließlichen Wasserstoff-Betrieb übergehen, würde dadurch im Laufe der Zeit und durch die Preissenkung der Wasserstofftechnologien ein reibungsloser und kostengünstigerer Übergang zur Wasserstoff-Energiewirtschaft, idealerweise mit Photovoltaik als Grundkapazität, gewährleistet sein.
Abschließen sei vermerkt, dass für einen erfolgreichen „grünen“ Übergang das Hauptziel der bulgarischen Energiewirtschaft darin bestehen soll, sich zu einer modernen digitalen Branche zu entwickeln, die auf Photovoltaik setzt und die Entwicklung neuer nachhaltiger Industrien mit hohem Mehrwert möglich macht. Zwingend notwendig dazu sind entsprechende Gesetzesänderungen (neues Energiewirtschaftsgesetz und umfangreiche Novellierung des EEG-Gesetzes). Dadurch soll die Entwicklung von kohlenstoffarmen Energiequellen gefördert und die langfristige Entwicklung und Stabilität der Branche gewährleistet werden.
Vladimir Penkov Nikolay Voynov